Geschichten aus dem Leben eines Sachtyps

Das Sonnensystem

Simone war in der sechsten Klasse im Gymnasium. Sie war ruhig, zurückhaltend und sagte eigentlich nur etwas, wenn man sie ansprach. Aber sie war Klassenbeste. Das war für sie nichts besonderes, denn sie hatte selten Mühe, den Unterrichtsstoff zu verstehen. Dies brachte ihr allerdings wenige Sympathien bei den Mitschülern ein – im Gegenteil. Meist wurde sie von den Kindern aus ihrer Klasse als Streberin bezeichnet, gehänselt und gemieden.

Zudem war sie im Sport nicht gerade ein Ass und wenn es um das Aussuchen für Mannschaften ging, blieb sie stets bis zum Schluss übrig, bis sie eine der Gruppen zwangsläufig bei sich aufnehmen musste. Das machte Simone traurig und so wurde sie oft „krank“ an den Tagen, an denen Sport auf dem Stundenplan stand.
Nie gehörte sie dazu und war somit meistens alleine.

In ihrem Zimmer verbrachte Simone viel Zeit damit, ihre Hausaufgaben zu machen und zu lernen. Außerdem las sie Bücher. Besonders interessant fand sie das Sonnensystem und überlegte sich, wie sie ein Modell konstruieren könnte. Sie entwickelte einen Plan auf ihrem Zeichenblock und zeigte ihn stolz ihrem Vater. Vielleicht hatte er eine Idee, wie man diesen umsetzen konnte.
Und ihr Vater wusste tatsächlich Rat. Er meinte, dass sie die Planeten aus Pappmaschee basteln und mit Draht auf einer Holzplatte befestigen könnte.

Simone war begeistert, und ihr Vater zeigte ihr, wie es geht. Stunde um Stunde verbrachte Simone damit, „Planetenkugeln“ mühevoll zu formen und schließlich zu bemalen. Ihr Vater sägte im Garten eine Platte zurecht und Simone verteilte ihre Kugeln auf Zeitungspapier im Gras, damit die Farbe trocknen konnte. Sie saß auf dem Rasen, wartete geduldig und war jetzt schön mächtig stolz auf ihr Werk.

Das Haus, in dem Simone wohnte, lag in der Nähe des Fußballplatzes. Die Jungs aus ihrer Klasse kamen oft an ihrem Garten vorbei, wenn sie zum Kicken wollten.

So auch an diesem Samstagnachmittag. Sie waren schon von weitem zu hören, denn sie grölten ausgelassen, und Simone hörte, wie sie ihren Fußball schon vor sich her kickten. Je näher sie kamen, desto unruhiger wurde Simone innerlich. Sie hatte ein bisschen Bammel vor den lauten Jungs, denn wenn diese zu mehreren waren, fühlten sie sich ganz besonders stark. Schließlich verzog sich Simone lieber ins Haus.

Als die Jungs am Gartenzaun angelangt waren, schauten sie zunächst beiläufig in den Garten. Als sie aber die tollen bunten Kugeln da liegen sahen, stoppten sie plötzlich, schauten sich an, bis einer rief:
„ Das sind aber mal coole Fußbälle. Los Jungs, die probieren wir doch gleich aus!“
Kaum hatte er das ausgesprochen, hüpften die Jungen über den niedrigen Zaun und rannten auf die „Planetenfußbälle“ zu.

Simone war total erschrocken. Sie stand in der Küche hinter der Gardine und beobachtete alles. Was sollte sie denn nun machen? Wo war bloß ihr Vater?
Sie sah ihn nicht. Simone war völlig verzweifelt. Sollte ihre mühevolle Arbeit völlig umsonst gewesen sein?
„Oh, meine Güte“, schoss es ihr durch den Kopf. Als sie dann noch sah, wie ein Junge gegen die größte der Kugeln trat, verspürte sie mit einem Mal einen solchen Zorn in sich aufsteigen …

… rannte plötzlich in den Garten, stellte sich in die Mitte des Rasens und schrie aus Leibeskräften:

„NEEEEIIIIN!“

Die Jungs stoppten ihr begonnenes Spiel und schauten völlig irritiert um sich. Was war denn das?

Simone stand breitbeinig da, ihre Hände waren zu Fäusten geballt und ihr Gesicht war ganz rot geworden. Und wie sie die Jungen anschaute – richtig böse. Bevor noch einer von ihnen etwas sagen konnte, rief sie:
„Ich bin richtig sauer jetzt! Das könnt ihr doch nicht machen mit meinen Planeten! Ihr seid wohl völlig verrückt geworden!“

Die Jungen staunten und standen mit offenen Mündern da. War das wirklich die stille Simone aus ihrer Klasse, die sonst nie einen Mucks machte? Markus, der Älteste von ihnen fand als erster seine Sprache wieder.
„Was soll das sein? Planeten?“

In diesem Moment kam Simones Vater in den Garten.
„Ja, genau. Simone ist dabei, ein riesiges Modell unseres Sonnensystems zu basteln. Wie wäre es, wenn ihr dabei mithelft? Simone hat einen genauen Plan entworfen und könnte eure tatkräftige Unterstützung bestimmt gut gebrauchen.“

Kurz überlegten die Jungs noch, aber dann fanden sie die Idee spannend.
„Klar, das kriegen wir locker hin!“ rief dann der „Anführer“ der Gruppe.

Eifrig verbrachten alle gemeinsam den Nachmittag damit, das Sonnensystem auf die Holzplatte zu montieren. Und Simone sagte ihnen, wo welcher Planet platziert werden sollte und erklärte auch warum. Sie war die Chefin. Das fand sie toll. Und alle waren so ehrgeizig bei der Sache, dass gegen Abend das Sonnensystem schon fertig war. Die Jungs hatten eine Menge von Simone gelernt und waren schwer beeindruckt.

Von diesem Tag an hänselten sie Simone nicht mehr in der Schule. Irgendwie hatten sie Respekt vor ihr bekommen. Und manchmal nahmen sie sie auch zu ihrem Fußballtraining auf den Bolzplatz mit, wenn sie Simone im Garten entdeckten und zeigten ihr, wie IHR Spiel funktioniert.